Sabine Dorotée Lehner_:
Stetka & Hinterseer: keusch! - Galerie der Künstler, München
1996
In einem von Münchens schönsten Ausstellungsräumen, der
durch seine großzügige Gewölbearchitektur und eine fast
sakrale Lichtführung wirkt, zeigte das seit 1992 dialogisch arbeitende
Künstlerduo Andreas Stetka und Helmut Hinterseer einen repräsentativen
Ausschnitt seiner Zusammenarbeit, betitelt mit dem Reizwort "keusch!".
In einem schönen Spannungsbogen wurde ein assoziativ verknüpftes
"Stationendrama" inszeniert, das drei große raumbezogene
Einzelinstallationen im thematischen Rahmen ironisch verfremdeter Alltagssituationen
szenisch erleben ließ.
Für die Züricher Predigt warfen vier Großraumprojektoren
eine rhythmisierte Bildsequenz von 324 Farbdias in rascher Folge an die
Wand. Sujet war der mit dem (an Dziga Vertov erinnernde) Kameraauge nachvollzogene
Weg durch alle Zimmer einer menschenleeren Privatwohnung. Beinahe als
absurde "Schöner Wohnen"-Parodie wirkten die parallelen
Projektionen einer Privatsphäre, deren Maße auf die stattlichen
Proportionen eines öffentlichen Kunstraums gedehnt waren. Gesamtkunstwerkqualitäten
bekam die Installation durch die akustische Unterlegung mit einem litaneiartigen
Kommentar zur Einrichtung, der als kontroverser "stream of consciousness"
mit schauspielerischem Pathos vorgetragen wurde. Einen Kernsatz der irritierenden
Sprachcollage im Telegrammstil bildete die lakonische Feststellung "gemütlich
ist schrecklich".
Nächste Station war die Videoprojektion mit dem mephistophelischen
Titel Pudels Kern, die den Topos 'Dame mit Hündchen' mit der Nacherzählung
einer erlebten Kurzgeschichte travestierte und in ihrer Weiß-Stilisierung
eine Überleitung zur nächsten Installation herstellte. Den stillen
Kontrast zur vereinnahmenden Eingangssequenz bildete das monochrom weiße
Environment Nabelschau, das mit über zwanzig unbemalten plastischen
"Gipsportraits" von vertrauten Alltagsgegenständen an den
Wänden eine Art "Trivial-Glyptothek" bildete. Die auf den
Kopf gestellten Größenverhältnisse der hommageartig auf
die jüngere Kunstgeschichte anspielenden Objekte waren bei näherer
Betrachtung einer präzisen Formungsregel unterworfen, mit dem Nabelpunkt
des Betrachters als verbindlichem "Maß aller Dinge".
Obwohl sich für diese Arbeit eine imaginäre Ahnenreihe - von
Menzels Atelierwand über Duchamp, George Segal und Oldenburg bis
zu Fischli/Weiss, Gober und Pia Stadtbäumer - erstellen ließe,
wirkte diese Arbeit auf ihrer durchdachten Meta-Ebene in raffinierter
Weise "unverbraucht" und schlug einen plausiblen Bogen zum programmatischen
Titelbegriff der Ausstellung, der in seiner etymologischen Bedeutung neben
moralischer Reinheit eben auch das spezifische Wissen von Eingeweihten
umfaßt.
Flash Art N° 193, 1997

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